Die Emanzipation des Beckenbodens oder Pipilogie 0 für Betroffene
Rainer Lange – Pipilogie für Betroffene oder “Die Emanzipation des Beckenbodens”
Ein Ratgeber für Frauen mit Blasenschwäche und Senkung
Blasenschwäche nach der Geburt
Die Probleme mit dem Beckenboden und der Blase beginnen meist mit der Schwangerschaft und Geburt. Von vielen Seiten, selbst von Frauenärzten und Frauenärztinnen, hört man immer noch: „Das ist halt bei Frauen normal!“ Und so führt der Weg zur Behandlung erst Jahrzehnte später wieder zur normalen Lebensqualität. Es ist keinesfalls so, dass Frauen auf Sport, Lachen, Zumba oder Seilspringen verzichten sollten. Ganz im Gegenteil. Und guter Rat ist nicht einmal teuer.
Nur – an wen soll man sich wenden?
Während sich die Geburtsmedizin in den vergangenen Jahrzehnten geradezu explosionsartig weiterentwickelt hat, ist die Diagnostik und Behandlung von Beckenbodenschädigungen durch Geburt und Schwangerschaft in Deutschland auf dem Stand von 1950 stehen geblieben. Es ist ein vernachlässigtes Gebiet der Medizin, auf dem es viele Fake News gibt und auf dem sich Ammenmärchen auch unter
Fachleuten gehalten haben. Der Autor hat mehrere Lehrbücher für Frauenärzte und Frauenärztinnen geschrieben und dieses Mal ein Buch für Betroffene, also das, was er seit Jahrzehnten seinen Patientinnen erklärt.
Vorwort
„Herr Doktor, ich bin ein Auslaufmodell!“ Das war die schlagfertigste Antwort auf meine Standartfrage in der Praxis: „Was führt Sie zu mir?“ Wir lachten beide herzlich und nun war das weitere Gespräch eine lockere Angelegenheit. Bei den meisten Frauen, die unter Blasenschwäche leiden, ist das aber nicht so. Sie schämen sich. Inkontinenz wird als Versagen und nicht als Krankheit angesehen. Es ist den Betroffenen peinlich und man redet lieber nicht darüber.
Dabei waren wir alle einmal inkontinent – als wir auf die Welt gekommen sind. Und wenn wir lange genug leben, verlassen wir sie auch wieder so. Aber bis dahin wollen wir möglichst dicht sein. In Deutschland leiden etwa zweieinhalb Millionen Frauen an einer Blasenschwäche. Ebenso viele leiden an einer Senkung (Prolaps) des Beckenbodens und der darauf liegenden Organe: Blase, Gebärmutter, Scheide und Enddarm. Das sind Erkrankungen, über die man allenfalls mit dem Ehemann oder der besten Freundin spricht, und die man ansonsten lieber für sich behält. Trotzdem kommen sie häufig vor und werden deswegen leider oft als normal angesehen. Oft auch von Ärzten. Aber sie sind nicht normal. Sie bringen niemanden um, aber sie rauben einem die Leichtigkeit im Leben.
In den letzten Jahren hat sich, Gott sei Dank, auf diesem Gebiet vieles geändert. Es gibt neue Methoden, Medikamente, Netze, Bänder und sogar Blasenschrittmacher, um diese Leiden zu behandeln. Und es etablierte sich eine neue Disziplin in der Medizin, die Urogynäkologie, die sich ausschließlich dieser Problematik verschrieben hat. Aber mit den neuen Behandlungsmethodenkamen neue Schwierigkeiten auf, die nicht nur bei den Betroffenen zu großer Unsicherheit geführt haben. Operationsmethoden, die anfangswahre Stürme der Begeisterung hervorgerufen haben, gerieten in die Kritik und wurden in einigen Ländern praktisch untersagt. Eine feste Strukturvorzugeben ist zurzeit unmöglich, weil sich zu viel bewegt, weil die Entwicklung auf diesem Gebiet – Gott sei Dank – rasant ist. In keinem Gebiet der Gynäkologie und Geburtshilfe hat sich in den letzten 20 Jahren so vielverändert wie in der Urogynäkologie, in der Behandlung von Harninkontinenz und Beckenbodensenkung der Frau. Die Lehrbücher mussten neu geschrieben werden. Aber das neue Wissen ist noch nicht überall angekommen. Und die Entwicklung lief nicht immer geradlinig, teilweise auch abwegig.
Wer betroffen ist und medizinischer Laie, kann nur schwer abschätzen, ober an einen Arzt gerät, der wirklich Fachmann auf dem Gebiet ist oder sich nur dafür ausgibt. Kompliziert wird die Angelegenheit zusätzlich, weil die Urogynäkologie – wie es der Name schon fast sagt – ein Grenzgebiet ist zwischen Gynäkologie und Urologie. Kaum weiter entwickelt hat sich aber die Struktur des Gesundheitswesens. Das Bild des Chefarztes, der omnipotent scheinbar alles kann, ist zumindest in machen Köpfen noch vorhanden. Und so werden Operationen aus der Epoche des Webinars mit einer Struktur aus Bismarcks Zeiten durchgeführt. Dieses Buch soll ein Ratgeber für Betroffene sein, um diese Krankheiten und die Behandlungsmethoden zu verstehen und sich im Dschungel der medizinischen Angebote zurechtzufinden.
Aber was hat das mit Emanzipation zu tun? Früher wurde die Frau auf ihre Reproduktionsfähigkeit reduziert. Sie war dazu da, Kinder zu bekommen. Die drei K waren ihr vorgegebener Lebensinhalt: Kinder, Küche, Kirche. Ein lustvolles, erfülltes Leben, wie der Mann es sich leisten wollte oder konnte, das war für sie nicht vorgesehen. Heute ist dies anders. Und trotzdem sind Frauen nach wie vor eingeschränkt. Jede zehnte Frau kann nach der Entbindung nicht mehr Joggen gehen oder Zumba tanzen, weil sie einnässt. Eine Tatsache, die deutsche Frauenärzte mehr oder weniger ignorieren. In vielen Vorträgen vor Gynäkologinnen und Gynäkologen, die ich über Harninkontinenzgehalten habe, fragte ich, wie viele Wöchnerinnen denn die Kolleginnen und Kollegen in den letzten Monaten wegen Blasenschwäche nach der Entbindung behandelt haben. Die Antwort lautete meist: keine.
Während sich die Untersuchungen in Bezug auf das Kind in der Schwangerschaft verzehnfacht haben – zweifellos mit tollen Erfolgen! –, ist die Untersuchung des Organs, das während der Schwangerschaft und Geburt am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird, nämlich der Beckenboden, auf dem Stand wie vor 50 Jahren. Oft hörte und höre ich noch von den zuständigen Ärzten, Urologen und Frauenärzten: „Das ist bei einer Frau haltnormal!“ Nein, das ist es nicht.
In Ländern, in denen die Emanzipation schon weiter fortgeschritten ist wie etwa in Skandinavien, wird die Disziplin der Medizin, die sich damit beschäftigt, die Urogynäkologie, ganz groß geschrieben, während sich hierin Deutschland Ärztefunktionäre, Klinikchefs und Ordinarien sehr schwertun, diesem Gebiet den entsprechenden Stellenwert zukommen zu lassen, von löbliche Ausnahmen einmal abgesehen.
Man beschäftigt sich ungern mit diesem „Pipikram“ – daher auch der Titel dieses Buches und dreier Lehrbücher für Gynäkologen darüber.
Gott sei Dank hat auch in Deutschland die Entwicklung ihren Lauf genommen, und wir holen gegenüber unseren nordeuropäischen Kolleginnen und Kollegen auf. Aber es lässt sich nicht verhehlen, dass sich hier zuland ein dieser vermeintlichen gynäkologischen Nische, die zehn Prozent aller Frauen betrifft und die daher tatsächlich deutlich größer ist als gemeinhin angenommen, das Frauenbild von vor 50 Jahren teilweise immer noch hält.
Ein fast noch kränkenderes Leiden ist Stuhlinkontinenz. Es ist noch tabuisierter als Harninkontinenz und wird noch mehr vernachlässigt. Obwohl es oft mit Harninkontinenz vergesellschaftet ist und anatomisch sehr naheliegt, ist es doch das Gebiet der Enddarmspezialisten (Koloproktologen). Das sind Chirurgen, die sich auf diese fünf Zentimeter Mensch spezialisiert haben. Sie sind leider noch seltener als Urogynäkologen. Aber mehr und mehr entstehen Beckenbodenzentren, in denen Urologen, Gynäkologen und Koloproktologen eine fachübergreifende, umfassende Diagnostik und Therapie dieser Leiden anbieten. Die Zusammenarbeit der verschiedenen medizinischen Disziplinen macht es nicht nur einfacher für Betroffene,an den richtigen Spezialisten zu kommen, sondern sie verbessert auch dieQualität der Medizin auf diesen Gebieten.
Zurück zu unserem „auslaufenden Modell“. Über schamhafte Dinge sollte man nicht schamhaft reden und ein feuchtes Thema gehört nicht trockenabgehandelt. Ein nicht zu ernster Ton, der absichtlich gewählt wurde, soll dazu beitragen, eine manchmal belastende Erkrankung leichter zu machen. Nicht umsonst geben wir unserer Scham, wie die Genitalien in alten Büchern genannt werden, privat oft gar nicht trockene Namen. Statt Vagina und Penis sagen wir eher Muschi und Schniedel. Oft fehlen uns die richtigen Worte, da wir im Alltag selten darüber reden.
Bei Männern tritt Harninkontinenz in den höheren Altersstufen übrigens ebenso häufig auf wie bei Frauen. Das kann gleiche, aber auch ganz andere Ursachen haben. Dann sind die Urologen gefragt. Dieses Buch jedoch richtet sich ausschließlich an Frauen.
Nun aber doch etwas Trockenes vorneweg:
Wenn wir in diesem Buch von „Ihrem Arzt“ oder „Ihrer Gynäkologin“ sprechen, so ist dies geschlechtsneutral gemeint. Korrekterweise müssten wir schreiben „Ihrer Ärztin“ oder „Ihrem Arzt“ bzw. „Ihrer Gynäkologin“ oder „Ihrem Gynäkologen“. Dies erschien uns aber zu umständlich. Da der überwiegende Anteil der Frauenärzte heute weiblich ist (rund 90 Prozent der Berufsanfänger), haben wir fast immer die weibliche Form gewählt. Wir nehmen an, dass die meisten Leserinnen dieses Buches nicht bei der ersten Seite beginnen und sich dann bis zur letzten Seite durchkämpfen werden, sondern gleich zu den Stellen blättern, die sie besonders interessieren. In der Regel werden das die Abschnitte im Kapitel „Beschwerden“ sein. Daher ist jedes Kapitel in sich verständlich und abgeschlossen, und man muss nicht erst an anderer Stelle nachlesen. Wiederholungen bleiben dabei nicht aus, doch das ist beabsichtigt. Denn manche Dinge sind so wichtig, dass wir sie mehrfach dargestellt haben, und angeblich merkt man sich erst etwas, wenn man es siebenmal gehört oder gelesen hat.